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Gemeinsam gegen einsam

Kennst du alle Nachbarn beim Vornamen? Die Bewohner der Wahlverwandtschaft Nürnberg könnten diese Frage mit „Ja“ beantworten. Durch die Verdichtung der

Städte wird Wohnraum immer teurer. Wohngemeinschaften könnten eine Lösung sein.


„Ich war so ein einsamer Wolf“, sagt die 73-jährige Hedda Gercke mit einem Lächeln im Gesicht, während sie am Krückstock durch ihre neue Wohnung am Bielingplatz in Nürnberg geht. Die Rentnerin mit gelber Bluse und pinkem Lippenstift stoppt kurz am Schreibtisch neben ihrem Bett. Dort kramt sie den Bauplan mit dem Grundriss hervor. „Ich wohne hier im brisantesten Teil“, sagt sie und deutet mit ihrem Zeigefinger auf den Plan. „Hier ist der Knick des Gebäudes und meine Nachbarn können leider auf mein Bett schauen. Jetzt habe ich aber eine Landschaftsgärtnerin bestellt, die nächste Woche kommt und mir Privatsphäre gestaltet“.


Generationenübergreifendes Wohnen in der Großstadt. In diesem Neubau leben die „Wahlverwandten“. (Credit: Dietrich Will)


Ihr Haus mit Blick auf die Weinberge Unterfrankens hat sie verkauft. Eingetauscht für einen Neuanfang auf 75 Quadratmetern. Mitten in der Großstadt. Lange hat sie nach einem passenden Wohnprojekt gesucht. Sie ist froh, nicht mehr alleine leben zu müssen. Jetzt hat Sie 53 neue Wahlverwandte - inklusive ihres Sohnes und seiner Familie. Die Apothekerin in Ruhestand ist bei den Wahlverwandten Nürnberg eingezogen. Das ist eine Genossenschaft von Bürgern, die das Zusammenleben von Familien, Studenten, Rentnern und Paaren als Ziel hat. In Achtsamkeit gegenüber Mensch und Natur werden gemeinschaftlich Ausflüge unternommen, gekocht oder auf dem Dachgarten Radieschen geerntet.

Auch das ist Gemeinschaft: Den Tag mit Gartenarbeit auf der Dachterrasse verbringen. (Credit: Peter Schmid)


Wohnraum wird immer teurer

Zwei Stockwerke über Hedda Gercke lebt Familie Gregor. Mit einem kleinen, schwarzen Messer entfernt Isabell Gregor die grünen Blätter von den Erdbeeren. Eine nach dem anderen holt sie aus dem grauen Papp-Behälter und hält sie unter fließendes Wasser. Das Schreien ihrer einjährigen Tochter im Hintergrund ist nicht zu überhören. Ehemann Holger wickelt sie im Nebenzimmer. „Hier ist immer was geboten“, sagt die 30-Jährige, während sie ihre Tochter wenige Augenblicke später auf den Küchentresen setzt und ihr eine Erdbeere in die linke Hand drückt. Der Familie gefällt das Leben in der Gemeinschaft. „Wir haben schon überlegt, ein Haus zu bauen. Aber hier in Nürnberg ist das nicht bezahlbar. Wir haben dann das hier gefunden und fanden es viel attraktiver“.

Das Wohnkonzept der Wahlverwandtschaft Nürnberg ist, obwohl es in der Stadt mehrere ähnliche Wohnprojekte gibt, die Ausnahme. Fast jeder fünfte Deutsche lebt allein. In Nürnberg wohnt laut des Amts für Stadtforschung und Statistik sogar in jedem zweiten Haushalt ein Single. Die Zahl der Einzelhaushalte steigt, die der Wohngemeinschaften sinkt. Dieser Trend hält laut dem Statistischen Bundesamt seit 20 Jahren an. Obwohl die soziale Beziehung mit anderen die Psyche eines Menschen positiv beeinflussen kann.


Soziale Beziehungen in Wohnkonzepten

Manuela Schulz ist Forscherin im Institut für Psychogerontologie der FAU Erlangen-Nürnberg. Ihre Forschungsinteressen umfassen unter anderem die Themen Hochaltrigkeit, Lebenssinn sowie soziale Beziehungen und Beratung im Alter. (CREDIT: FAU Erlangen-Nürnberg)

„Man hat in WGs all das, was eigentlich gut für einen ist: Niedrigschwelligen Zugang zu sozialen Kontakten, man kann schnell den Nachbarn fragen, ob der einem mal helfen kann, hat auch mal diese banalen sozialen Interaktionen“, so Manuela Schulz. Sie forscht am Institut für Psychogerontologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; unter anderem im Bereich „Soziale Beziehungen“. Dennoch seien laut Schulz solche Wohnkonzepte nicht für jeden ideal. Für Personen, denen es eher schwerfalle, Beziehungen aufzubauen, kann es schwierig sein in eine Wohngemeinschaft zu ziehen. Darin liegt aber auch das große Potenzial von WGs.

Dieses haben Dietrich Will und seine Frau Roswitha erkannt. „Die Espressomaschine ist leider gerade in Reparatur“, so der selbstständige Architekt. Er mahlt stattdessen seine Kaffeebohnen in der kleinen Elektro-Mühle. Das Ehepaar lebt im zweiten Obergeschoss bei der Wahlverwandtschaft. „In der ersten Woche hatten wir schon eine schöne Begegnung. Da habe ich etwas gekocht und bin dann zu den Nachbarn rüber und hab gefragt ob sie mitessen wollen“, erzählt die Erzieherin während sie das Kaffeepulver in die Espressokanne kippt. „Schon hatten wir ein schönes Abendessen zu viert“.


Gemeinschaft geht eben auch durch den Magen - eine Wohngemeinschaft sogar noch weit darüber hinaus.


Audio-Reportage

Wie ist das Leben in der Wahlverwandtschaft? Hier erlebst du einen exklusiven Einblick hinter die Kulissen. Zwischen Wäsche waschen und Terrassen-Planung erzählen die Bewohner von ihrem Alltag.



Von Peter Schmid

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